Der Graureiher (Ardea cinerea) ist einer der auffälligsten und spektakulärsten Vögel unserer Heimat. Kein Wunder, dass die Menschen sich ihm - seit undenklichen Zeiten bis heute - auf die eine oder andere Weise verbunden fühlen.
Hochherrschaftliches Jagdvergnügen
„Die Reiherbeize ist eine Jagdlust großer Herren, da sie die Reiher mit abgerichteten Raubvögeln, Falken oder Blaufüßen fangen lassen.“ So beginnt Johann Heinrich Zedler in seinem Großen Vollständigen Universal Lexicon von 1742 die Beschreibung der Jagd auf den fliegenden Graureiher mit großen Falkenarten wie Wander- (Falco peregrinus) oder Gerfalken (F. rusticolus), seltener auch mit den so genannten „Blaufüßen“ (eine alte Bezeichnung für den in Deutschland inzwischen ausgestorbenen Würg- oder Sakerfalken, F. cherrug). Seit dem frühen Mittelalter gehörte die Reiherbeize, im Gegensatz zur Beizjagd auf anderes Feder- oder kleineres Haarwild, zur „Hohen Jagd“. Ihre Ausübung war damit dem Hochadel und den obersten kirchlichen Würdenträgern vorbehalten.
Geflogen wurde auf den „vollen“ oder „schweren“ Reiher in der „Passage“, der mit gefülltem Kropf auf dem Rückweg von den Nahrungsgründen zur Brutkolonie war. Beim Anblick des anfliegenden Falken würgte der Reiher seine Beute hervor (er „reiherte“) und trachtete danach, in größere Höhen zu entkommen. Der Falke seinerseits überstieg den Reiher und versuchte, ihn durch Attacken von oben zur Landung auf dem Boden zu zwingen. Die Jagdgesellschaft verfolgte das Spektakel zu Pferd - angesichts des oft unwegsamen Geländes und der hohen Geschwindigkeit kein ungefährliches Unterfangen. Schwere Unfälle oder sogar tödliche Stürze von Ross und Reiter waren an der Tagesordnung. So verlor der Habsburger Kaiser Maximilian I. (1449-1517) seine beiden Frauen Maria von Burgund (1457-1482) und Bianca Maria Sforza (1472-1510) infolge von Unfällen bei der Reiherbeize.
Primäres Ziel der Jagd war nicht der Tod des Reihers, auch wenn dieser fallweise billigend in Kauf genommen wurde. Bei der Ankunft am Ort der Landung wurde zunächst der Falke vom „Falconiersknecht“ aufgenommen und versorgt. Anschließend rupfte der Falknermeister dem Reiher die beiden langen Schmuckfedern am Hinterkopf aus und übergab sie dem Jagdherrn, der sie in der Regel an seine Dame weiterreichte. Zuletzt wurde der Reiher mit einem Metallring mit eingraviertem Siegel/Wappen des Jagdherrn, sowie mit Orts- und Datumsangabe, gekennzeichnet und wieder freigelassen. Die erfolgreiche Jagd auf einen bereits mehrfach gebeizten Reiher galt als besondere Herausforderung und trug nicht unerheblich zum Ansehen des Jagdherrn und der gesamten Jagdgesellschaft bei.
Besonders passionierte Anhänger der Reiherbeize in Süddeutschland waren die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, allen voran Karl Wilhelm Friedrich von B.-A. (1712-1757), der „Wilde Markgraf“. Er unterhielt zeitweise den größten Falkenhof Europas. Beim Ausbau seiner Sommerresidenz in Triesdorf/Weidenbach ließ er u. a. spezielle Reiher- und Falkenhäuser errichten, dazu mehrere Jagdschlösser in der Umgebung. Für seine Jagdleidenschaft gab er alljährlich bis zu zehn Prozent des Staatshaushalts aus, und nach seinem Tod hinterließ er seinen Erben eine Schuldenmasse von mehr als 2.3 Millionen Reichstalern.
Die Zeit der großen Reiherhalden
Voraussetzung zur Ausübung der Reiherbeize war der Zugriff auf eine größere Reiherhalde (regional übliche Bezeichnung für eine Graureiherkolonie), die vom jeweiligen Landesherrn gegen jegliche Übergriffe von außen geschützt wurde.
Seit Jahrhunderten bekannt und berühmt als „eine der bedeutendsten in teutschen Landen“ war die Reiherhalde am linksseitigen Hang der Dünsbachklinge unterhalb von Schloss Morstein. Nach wechselvoller Geschichte gelangte sie 1563 in den Besitz der Herren von Crailsheim. Erstmals „aktenkundig“ wurde sie 1593 durch das gewaltsame Eindringen von bewaffneten Bediensteten des Markgrafen von Brandenburg-Ansbach – ein Vorfall, der zu einer rückblickend höchst bemerkenswerten Klage der niederadeligen Crailsheimer gegen den hochadeligen Markgrafen vor dem Reichskammergericht führte (Bay. Hauptstaatsarchiv Nr. 2014 C 570).
Die verfügbaren Angaben zur Anzahl der in früherer Zeit bei Morstein brütenden Reiher scheinen nicht immer zuverlässig, und zweifellos dürfte im Laufe der Jahrhunderte auch eine gewisse Bestandsfluktuation stattgefunden haben. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird vom „großen Reiherzuge, der sich in jedem Frühling seit undenklichen Jahren einfindet“ berichtet. In einer Beschreibung des Oberamtes Gerabronn von 1847 ist von „bis zu 800 hier horstenden Reihern“ die Rede – eine heutzutage nur schwer vorstellbare Zahl. Insgesamt kann man aber wohl von einer Zahl von Brutpaaren im unteren dreistelligen Bereich ausgehen.
Der Niedergang begann Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung immer effektiverer Schusswaffen und dem „Imagewandel“ des Graureihers vom hochgeschätzten Objekt der höfischen Jagd hin zum verhassten Fischräuber. Von 1888 an wurden Staatsprämien für die Erlegung von Graureihern gezahlt, und die Reiherhalde Morstein war schon bald die letzte verbliebene Kolonie in Württemberg. 1938 wurde sie als eines der ersten Naturschutzgebiete im Land ausgewiesen. Die Zahl der Brutpaare ging jedoch weiterhin kontinuierlich zurück, auch weil der Graureiher selbst erst 1971 unter Schutz gestellt worden ist. Störungen durch einen in den 1960er Jahren einsetzenden, ungelenkten „Reihertourismus“, Besuche von lärmenden Schulklassen und nicht zuletzt unsensibler Holzeinschlag zu Beginn der Brutzeit im Spätwinter taten ein Übriges und haben schließlich dazu geführt, dass 1972 letztmals ein Paar Graureiher bei Morstein gebrütet hat.
Schon seit Mitte der 1960er Jahre gab es erste Hinweise auf die Entstehung einer neuen Graureiherkolonie im mittleren Jagsttal, diesmal auf Langenburger Gebiet in einem linksseitigen Hangwald gegenüber von Bächlingen. Die Entwicklung der Brutpopulation in der 1974 ebenfalls als Naturschutzgebiet ausgewiesenen Reiherhalde Bächlingen verlief anfänglich sehr positiv. Mit etwa 60 Paaren im Jahr 1984 war ein Höchststand erreicht, bevor die Bestandsentwicklung sich ab Ende der 1980er Jahre dann umkehrte. Seit 1996 muss auch die Reiherkolonie bei Bächlingen als erloschen angesehen werden.
Erwähnenswert ist noch das Scheitern des Versuchs einer Koloniegründung in der Nähe von Unterregenbach Mitte des vergangenen Jahrzehnts. Auf die Ursachen dafür soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.
Schwierige Schutzbemühungen
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nahm die Bewegung zum Schutz der Vögel und zum Schutz der Natur allgemein an Fahrt auf. Hauptverantwortlich dafür war die Gründung des Bundes für Vogelschutz (BfV, Vorläuferorganisation des heutigen NABU) im Februar 1899 in der Stuttgarter Liederhalle durch Emilie Karoline („Lina“) Hähnle. Als Gattin des einflussreichen und wohlhabenden Textilfabrikanten und späteren Reichstagsabgeordneten Hans Hähnle nutzte sie geschickt ihre gehobene Stellung und ihre finanziellen Möglichkeiten, um ihre Organisation in allen Schichten der Gesellschaft zu verankern. Mitglieder wurden bedeutende Persönlichkeiten wie König Wilhelm II. von Württemberg oder sogar der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, aber auch einfache Handwerker und Fabrikarbeiter. Möglich war dies durch einen bewusst niedrig gehaltenen jährlichen Mitgliedsbeitrag von 50 Pfennigen für Erwachsene und 10 Pfennigen für Kinder und Jugendliche. Basis der Verbandsarbeit waren Landes- und vor allem Ortsgruppen, die sich in vielen Städten und größeren Gemeinden formierten.
Es hat ein halbes Jahrhundert und zwei Weltkriege gedauert, bis 1957 schließlich auch in Langenburg eine BfV-Ortsgruppe gegründet wurde. Diese hatte gerade etwas mehr als 10 Jahre Bestand, als es Ende der 1960er Jahre zu einschneidenden Veränderungen kam. Zum einen erfolgte eine Umbenennung des Verbandes in „Deutscher Bund für Vogelschutz“ (DBV). Zum anderen wurde beschlossen, eine Verbandszeitschrift („Wir und die Vögel“) herauszugeben, deren Bezug für alle Mitglieder bindend sein sollte. Letzteres war aber nur möglich durch eine deutliche Erhöhung der Beiträge und damit nach Ansicht vieler eine Abkehr vom ursprünglichen Grundsatz der allgemeinen Sozialverträglichkeit. Dies führte – gerade auch in Langenburg - zu großer Unzufriedenheit, zum Austritt von rund 60 Mitgliedern und nur wenig später zur Auflösung der Ortsgruppe.
Da man die ehemaligen DBV-Ortsgruppenmitglieder nicht für den Vogelschutzgedanken verlieren wollte, wurde am 27. Februar 1975 im Café Bauer in Langenburg ein neuer Verein, der Heimatvogelschutz Langenburg e. V. (HVSL) gegründet. Dieser war nicht mehr Mitglied im DBV, man strebte aber eine enge Kooperation an. Erster Vorsitzender wurde Wilfried Simmann. Das oberste Ziel der Vereinsarbeit wurde klar formuliert: „Unser Hauptanliegen ist die Erhaltung unserer Reiherkolonie in Langenburg“, und folgerichtig zierte die Darstellung eines fischenden Graureihers den Kopf des eigens entworfenen Briefpapiers. Das unrühmliche Ende der Reiherhalde Morstein wenige Jahre zuvor als negatives Beispiel vor Augen, wollte man dabei vorrangig auf Maßnahmen wie Betretungsverbote, Wegsperrungen und generelle Geheimhaltung des genauen Koloniestandorts setzen.
Dieses geplante Vorgehen rief den DBV in Gestalt der Ortsgruppe Schwäbisch Hall und ihres Vorsitzenden Horst Schneider auf den Plan. Dort hatte man ganz andere Ideen mit Hinweisschildern, Informationstafeln und sogar dem Bau einer Beobachtungsplattform für Besucher am gegenüberliegenden Schlossberg. Dem jungen Langenburger Verein wurde jegliche Kompetenz in dieser Angelegenheit abgesprochen: „Einem Heimatvogelschutzverein auf Ortsebene fehlen die Möglichkeiten, besonders aber auch der Informationsfluss. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich in der Wintervogelfütterung und im Aufhängen von Meisennistkästen erschöpft, ist groß.“ Wilfried Simmann konterte den Vorwurf für den HVSL: „Damit wird aber gesagt, dass wir als Langenburger aufgrund unserer Ortskenntnisse und im Einvernehmen mit der Bevölkerung in den Schutzmaßnahmen bestimmte Vorrechte haben. Die notwendigen Entscheidungen … wissen wir besser.“
Dass unter diesen Vorzeichen kein gemeinsames Vorgehen zustande kommen konnte, liegt klar auf der Hand. Schließlich sollte die Bezirksstelle für Naturschutz bzw. das Regierungspräsidium in Stuttgart eine Entscheidung treffen, wer vor Ort die Verantwortung für den Schutz der Bächlinger Reiherkolonie übertragen bekommen sollte. Von Seiten der Behörden wurde das Problem allerdings nur sehr zögerlich angegangen.
Unbeeindruckt davon machte sich der HVSL daran, verschiedene Schutzmaßnahmen zu planen und umzusetzen. Aufwendigstes Projekt war die „Anlage eines Wasservogelbrutgebietes mit Nahrungsteich für Graureiher“ durch die „Reaktivierung“ eines Seitenarms der Jagst auf einem der Stadt gehörenden Flurstück zwischen Bächlingen und Hürden. Trotz Bedenken und größter Widerstände von mehreren Seiten konnte das Projekt realisiert und im Juli 1979 seiner Bestimmung übergeben werden. Ein weiterer „Reiherweiher“ wurde 1981 oberhalb der ehemaligen Kolonie in Morstein auf der Gemarkung Dünsbach angelegt.
Letztendlich aber waren alle Bemühungen vergeblich. Seit Ende der 1980er Jahre war die Zahl der Brutpaare bei Bächlingen stark rückläufig, und seit 1996 muss die Kolonie als endgültig erloschen gelten.
Bleibende Erinnerungen
Die viele Jahrhunderte währende Geschichte der großen Reiherhalden im mittleren Jagsttal scheint (vorläufig?) vorbei zu sein. Was geblieben ist, sind zahlreiche Spuren und Erinnerungen.
Die Schriftstellerin Agnes Günther hat den Morsteiner Reihern in ihrem Roman „Die Heilige und ihr Narr“ ein literarisches Denkmal gesetzt, und ein 1833 erschienener Aufsatz über die dortige Reiherhalde wird Carl Julius Weber posthum zugeschrieben. Den Rundbrunnen am Marktplatz in Langenburg zieren zwei Reiherfiguren, die sich im Wettbewerb gegen eine Löwenskulptur durchgesetzt haben. In Dünsbach erinnert die Straßenbezeichnung „Zur Reiherhalde“ an den ehemaligen Standort der Kolonie. Und nicht zuletzt steht der Graureiher - wie vor 50 Jahren, allerdings in einer zeitgemäß angepassten Version – als Symbol für die Ziele und Aktivitäten unseres Vereins.
Und die Graureiher selbst? Zwar fliegen sie schon lange nicht mehr um Agnes Günthers Schloss „Thorstein“ (= Morstein), wie „traurige und sehnsüchtige Gedanken“. Aber sie ziehen auch heute noch das Jagsttal entlang, auf dem Weg zu ihren jetzt versteckt und meist vereinzelt gelegenen Brutplätzen. Oder sie stehen im Morgennebel am Flussufer und auf den Wiesen im Talgrund - Phantomen gleich, die die Erinnerung an eine große Vergangenheit wachhalten.
Ein genaues Quellenverzeichnis ist auf Anfrage über den Verfasser erhältlich